Die Aufmerksamkeit für rührige Weihnachtswerbespots ist den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Grund dafür sind die sozialen Netzwerke, in denen sich emotionaler Content teilweise explosionsartig ausbreitet. Die Logik dahinter ist simpel: Fühlt sich ein Mensch von einem Inhalt emotional angesprochen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er diesen Inhalt mit anderen teilen will. Emotionen spielen auch bei der Steuerung des Kaufverhaltens potentieller Konsumenten eine zentrale Rolle. Es lohnt sich also, die Gefühle der Zielgruppe zu berühren. Am besten klappt das, wenn Marken emotional aufgeladen und Werbung nicht wie Werbung aussieht. Womit wir beim eigentlichen Thema wären: Die rührseligen Weihnachtswerbespots der großen deutschen Handelsunternehmen Otto, Edeka und Co.

Heulst du noch, oder feierst du schon? – Manipulation durch Schuldgefühle 

Thematisch drehen sich die Kampagnen auch in diesem Jahr vor allem um das Thema Familie. Und ich gebe es zu, auch ich musste mir beim Anschauen des Edeka Weihnachtswerbesports #Zeitschenken ein Tränchen verdrücken. Ist es denn nicht wirklich so, dass wir viel zu wenig Zeit für unsere Liebsten haben? „Das schönste Geschenk ist deine Zeit“, heißt es am Ende des Films mahnend. „Schenke das Wertvollste, das du hast – Zeit“ fordert auch Otto in seinem aktuellen Spot, in dem es eine Familie in der Hetze des Alltags kaum schafft, wirklich zueinander zu finden. Ohne diese Zahlen statistisch belegen zu können, fühlen sich sicher mindestens 80% aller Berufstätigen –und 95% aller Eltern – davon angesprochen. Den Faktor Zeit in der Geschichte zu betonen und die Konsumenten mit einer anrührenden Geschichten dazu zu animieren, sich mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu nehmen ist also eigentlich eine ziemlich gute Idee. Aber irgendwie auch scheinheilig, denn ist nicht gerade der Konsum die eigentliche Wurzel unseres Zeitproblems?Wer konsumieren will, muss arbeiten, wer arbeitet hat keine Zeit

Friedrich Hengsbach beispielsweise kommt in seinem Buch „Die Zeit gehört uns: Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung“ zu der interessanten Erkenntnis, dass Stress auch durch einen verstärkten Konsum entstehen kann. Den Konsum-Zwang bezeichnet er als „Dynamik des kapitalistischen Systems“, dem sich niemand widersetzen kann. Und tragen denn nicht Supermarktketten und Versandhändler mit ihren Angeboten und ausgeklügelten Marketingmaßnahmen maßgeblich zur Konsumgesellschaft bei? Und wer konsumieren will, muss arbeiten, und wer (viel) arbeitet, hat nun mal keine Zeit, um mit seinen Kindern Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen (siehe Edeka-Spot). In unserer heutigen Zeit sind ganz offensichtlich immer mehr Menschen in einer sich immer schneller drehenden Spirale aus Arbeits- und Konsumdruck gefangen. Das soll aber um Himmels willen keine Kapitalismuskritik sein, sondern bloß eine Feststellung.Thematisch relevant, sofern man den Kontext ausblendet

Wenn wir also davon ausgehen, dass all jene, die mehr Zeit mit ihren Liebsten haben wollen, damit anfangen sollten, weniger konsumorientiert zu leben, wären Edeka und Co sicher die letzten, die das gut fänden. Nur dass mich keiner falsch versteht, ich finde ich Spots allesamt richtig gut gemacht, 100%ig auf der Höhe der Zeit und zielgruppenrelevant, nur im Kontext betrachtet eben unpassend. Dass es auch anders geht, zeigt z.B. REWE. Im Spot versucht eine Frau, die Schwiegermutter an Weihnachten zu beeindrucken, was erfahrungsgemäß gar nicht so einfach ist. Zum Glück gibt’s bei REWE alles, um selbst dem anspruchsvollsten Gast ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern – so wird Weihnachten ein Fest. Hier passt irgendwie alles zusammen – Intention, Story, Tonalität, Werbebotschaft. Und das ganz ohne Tränchen.